Manuskipt zum Vortag auf den Dortmunder Gesprächen 1991
Künstliche Neuronale Netze zur Optimierung der Tourplanung in der Kommissionierung
R. Jünemann+, M. Wölker*
+ Leiter des Fraunhofer-Instituts für Materialfluß und Logistik IML
Emil-Figge-Str. 75, 4600 Dortmund 50, FRG und
Inhaber des Lehrstuhls für Förder- und Lagerwesen, Universität Dortmund
* Universität Dortmund, Lehrstuhl für Förder- und Lagerwesen
Emil-Figge-Str. 73, 4600 Dortmund 50, FRG
Abstract
Einleitung
Tour, dynamisch berechnet mit einer eindimensionalen Kohonenkarte |
Experten stoßen schnell an ihre Grenzen, da die hohe Zahl der Eingangsvariablen, Ausgangswerte und deren Verflechtung eine Gesamtsicht des Systems nicht mehr zuläßt (kombinatorische Explosion). Ferner muß der Subjektivität eines menschlichen Experten Rechnung getragen werden [Dör 89]. Für jede Modellbildung und die daraus folgende Konzeptionierung in allen Ebenen [Jün 89] muß dieser hohe Komplexitätsgrad berücksichtigt werden (Bild 2) Da somit die verschiedenen Systemparameter nicht unabhängig voneinander existieren sondern sich gegenseitig beeinflussen, müssen nicht konventionelle Lösungswege gesucht werden. Von einer mechanistischen gelangt man so zu einer holistischen Systemsicht. Es ist daher notwendig, computergestütze Datenverarbeitungssysteme einzusetzen.
Logistische Aufgabenstellungen (bei vollständiger Information über das System) können im wesentlichen in drei Problemklassen eingeteilt werden [Jün 89,Dom 90]:
- Tourenplanung- (TPP),
- Handlungsreisenden- (Travelling Salesman Problem, TSP),
- Distribution mit Standort, Stufen, Anzahl, Zuordnung .
Heuristik
bedeutet etwa die "Kunst des Entdeckens". Die Heuristik macht Gebrauch von unscharfem Wissen (Daumenregeln, Faustformeln), das im allgemeinen die Effizienz eines Systems bei Problemlösungen verbessert. Problem- oder domänenspezifisches heuristisches Wissen fließt dann in Systeme ein, wenn exakte (algorithmische) Verfahren nicht bekannt oder zu aufwendig sind. Heuristik wird zur Problemlösung wesentlich in wissensbasierten und neuronalen Systemen eingesetzt [Kai 89].Außer diesem klassischen Ansatz werden in zunehmendem Maß Konzepte aus der KI-Forschung eingesetzt, deren Vorgehen sich an menschlichen Aspekten intelligenten Verhaltens orientiert. Dieses Vorgehen ist wegen der Schwere der Problemklasse (NP-schwer) notwendig. Auch für Probleme mit unvollständiger Information (Tabelle 1). Heuristische Verfahren gehen von zwei unterschiedlichen Standpunkten aus. Einerseits werden wissensbasierte Systeme geschaffen, die nicht die Inhalte von bedeutungsfreien Variablen verarbeiten, sondern Symbole mit semantischer Bedeutung manipulieren. Sie verwenden dazu Wissen, das in einer Datenbasis vorher angelegt wird.
Andererseits wird die Beziehung einzelner einfacher Komponenten untereinander betont, so daß das Wissen implizit in den Relationen bzw. Verbindungen der einzelnen Komponenten untereinander vorhanden ist. Diese beiden Sichtweisen spiegeln den unterschiedlichen Zugang zur Informationsverarbeitung "Symbolismus vs. Konnektionismus" wieder.
Mit allen drei Konzepten (klassisch, symbolistisch, konnektionistisch) wurden und werden Softwaremaschinen entwickelt. Für jeden Einzelfall ist ein bestimmtes Verfahren unterschiedlich gut geeignet. Weil die Entwicklungzeiten einzelner Softwareprojekte schon bei kleinen Problemen mehrere Mannjahre umfassen, muß eine sorgfältige Wahl getroffen werden, weil spätere Korrekturen nicht möglich oder immens aufwendig sind. Die größten Zukunftsaussichten haben Hybridsysteme, die die Stärken der verschiedenen Konzepte nutzen und deren Schwächen umgehen (Synergie).
Beispiel Kommissionierung
In diesem Artikel können die einzelnen Aspekte der unterschiedlichen Ansätze nur unvollständig herausgearbeitet werden, insbesondere unter Berücksichtigung, daß dies Gegenstand aktueller Informatikforschung ist. Daher soll der Einsatz eines "intelligenten" Systems an einem Beispiel demonstriert werden.
In einem Hochregallagersystem müssen bei der Kommissionierung mit einem RFZ unterschiedliche Positionen angefahren werden. Ziel einer Optimierung muß es sein, die optimale d.h. kürzeste Tour zu berechnen. Bei wenigen Positionen kann die optimale Tour deterministisch berechnet werden. Aber schon Größenordnungen von 10 Positionen führen zu Rechenzeiten, die einen praktischen Einsatz verhindern. Im Folgenden wird die Größe des Problems, hier die Anzahl der anzufahrenden Positionen, mit Instanz bezeichnet.
Da in heutigen realen Lagern oftmals bis zu 50 Positionen angefahren werden müssen (Kleinteilelager), ist am FLW ein heuristischer Ansatz basierend auf Künstlichen Neuronalen Netzen (Artificial Neuronal Networks ANN, siehe folgende Seite) im Hinblick auf seine Praxistauglichkeit untersucht worden [Sch 91].
Just-In-Time und Tour-Optimierung
Die käuferorientierte Entwicklung des Marktes führt zum Just In Time (JIT) Konzept. JIT bewirkt ein verändertes Dispositionsverhalten der Käufer aufgrund einer neuen Lagerstruktur. Bei größerer Liefertreue und kürzerer Reaktionszeit werden geringere Mengen mit größerer Sortenvielfalt geordert. Dies erzwingt eine Optimierung der Kommissionierverfahren (Bild 4) des Zulieferers. Diese Optimierung kann durch eine Verbesserung der Tourenplanung im Lagersystem realisiert werden.Künstliche neuronale Netze (ANN)
Eine Nervenzelle (Neuron) kann als ein elementarer Logikbaustein eines abstrakten Computers verstanden werden, der zu einer Schwellwertoperation fähig ist. Es mag erstaunen, daß die ersten Forschungsansätze schon 1943 von McCulloch und Pitts in ihrer Arbeit "A logical calculus of the ideas immanent in nervous activity" veröffentlicht wurden.Über die stark verästelten Dendriten empfängt das Neuron Signale, die es unterschiedlich stark erregen. Die meisten neuronalen Modelle unterscheiden dabei exitatorische (erregende) und inhibitorische (hemmende) Kopplungen. Überschreitet die Erregungsstärke einen Schwellenwert, so geht das Neuron in den aktiven Zustand über, es "feuert". Im neuronalen Modell wird dies durch Summation der Wichtungsfaktoren aller Verbindungen mit folgendem Schwellwertschalter realisiert. Jedes Neuron übermittelt über das Axon seinen Zustand allen anderen mit ihm verbundenen Neuronen [Pal 88, Gei 89, Law 90].
Orientiert an diesem biologischen Vorbild werden mehrere Elementarbausteine miteinander verbunden. Im neuronalen Modell werden dann in Zeitschritten die aktuellen Zustände der Neuronen aus den jeweiligen Eingangssignalen berechnet.
Das ANN muß für seine Aufgabe trainiert werden. D.h. die Wichtungsfaktoren der einzelnen Verbindungen müssen so angepaßt werden, daß bei definierten Eingangssignalen die richtigen Ausgangssignale erzielt werden. ANN werden nach kontrolliertem Lernen, was nur möglich ist, wenn die "richtige" Lösung eines Problems bereits bekannt ist, und nach selbsständigem Lernen unterschieden. Das Modell formaler Neuronen entspricht somit nicht exakt menschlichen Neuronen, sondern bildet Teilfunktionen nach. Aus diesen allgemeinen Überlegungen lassen sich eine Vielzahl von ANNs ableiten, die sich in Topologie, Lernstrategie und Aktivierungsfunktion stark unterscheiden. Allen ANN ist gemeinsam, daß sie nach Eingabe eines Musters nach einiger Zeit in einem stabilen Zustand enden, der das Ergebnis darstellt.
Einordnung des Travelling Salesman Problems
Das allgemeine TSP gehört zu Klasse der NP-schweren Probleme. Wir betrachten hier die Einschränkung auf ein ebenes, euklidisches, symmetrisches TSP, trotz der Einschränkung bleibt das TSP NP-schweer. Die reale Kostenmatrix kann hier als Entfernungsmatrix genähert werden, da bei den Fahrten zwischen den Haltepositionen in der Regel beide Achsen gleichzeitig bewegt werden können, daß die Kosten unabhängig von der Fahrtrichtung sind und die Beschleunigung so groß ist, daß eine lange Zeit mit gleichbleibender Geschwindigkeit gefahren werden kann.Inhalt der Arbeit ist es, ein Verfahren zu schaffen, das eine gute suboptimale Tour (Bild 4) für ein spezielles TSP berechnet. Dabei sollen die einer Praxistauglichkeit entgegenstehenden Probleme wie Konvergenz, Qualität, Streuung, Rechenzeit bei ANNs überwunden werden, so daß man in annehmbaren Zeiten (ca. 19 min) sicher ein gleichbleibend gutes Ergebnis erzielt. Das Interesse liegt nicht in der Funktionsweise des ANNs selbst - womit sich die Grundlagenforschung in diesem Sektor beschäftigt - sondern in der konkreten Anwendung.
Im vorliegenden Fall wird auf Workstations SICOMP WS-30 ein ANN als Kohonen Typ einer selbstorganisierenden, ringförmigen Karte implementiert (Bezeichnung: RANDOM). Die Leistungsfähigkeit von RANDOM wird anschließend im Vergleich mit bekannten deterministischen (NEAREST, ALLNEAREST, HAMILTON) und heuristischen (SELFORG, TWOOLOOP) Verfahren untersucht. Aufgrund der z. T. heuristischen Natur der Verfahren ist eine Beurteilung nur statistisch möglich. Von den Instanzen 10, 30, 50, 100 wurden hierfür jeweils 1000 Probleme auf einer 100x20 Lagermatrix erzeugt und mit den genannten Verfahren berechnet.
Hier werden die mittleren Tourlängen L und die mittleren Standardabweichungen s relativ zum neuen Verfahren RANDOM verglichen. Die Qualität des heuristischen Ansatzes wird offensichtlich. Bei sehr kleinen Instanzen liegt RANDOM, ebenso wie sein Vorgänger SELFORG nur 2,6% schlechter als die optimale Lösung (HAMILTON).
Die hier eingeführte Heuristik berechnet somit sehr gute Ergebnisse in einem großen Instanzenbereich. Für eine technische Anwendung ist außerdem eine geringe Streuung der Ergebnisse von Bedeutung. Daraus läßt sich schließen, daß berechnete Touren fast nie sehr schlecht sind. Ein weiterer Hindernisgrund für den Einsatz von heuristischen Verfahren bildet die schlechte Vorhersehbarkeit der Rechenzeit aufgrund des heuristischen Konzepts.
Zusammenfassung und Ausblick
Rückblickend gesehen wurde auf die stetige Komplexitätssteigerung bisher mit immer aufwendigeren und somit fehlerhaften Softwaremaschinen reagiert. Viele der heutigen Problemklassen können so nicht mehr gelöst werden, was zu neuen heuristischen Konzepten zwingt. Man verzichtet dabei auf eine exakte Lösung, um in kurzer Zeit eine (sehr) gute Lösung zu erreichen. Expertensysteme und Neuronale Netze werden in Zukunft einen immer breiteren Raum der Softwareerstellung einnehmen. Damit sind die traditionellen Systeme aber nicht überholt, sondern werden in Gesamtsysteme integriert werden müssen. Ein Beispiel dafür mag dies illustrieren: In Expertensystemen werden bereits ansatzweise ANNs integriert, die mit ihrer Stärke zur Assoziation aus Beispielfällen neue Regeln extrahieren. Außerdem sind die Wissensbasen vieler Expertensysteme so umfangreich geworden, daß die Verwaltung dieses Wissen von unterlagerten traditionellen Datenbanksystemen übernommen wird.Am konkreten Beispiel der Kommissionierfahrten in Hochregallagergassen konnte gezeigt werden, daß die Schwächen eines neuronalen Netzes beseitigt werden können. Es wurde ein Netz geschaffen, das sehr gute Lösungen in kurzer Zeit für einen großen Instanzenbereich berechnet. Da zusätzlich eine geringe Streuung erreicht wurde, ist die Praxistauglichkeit solcher selbstorganisierenden Netze evident. Als weiteres Vorgehen sollte hier die Kostenmatrix weiterentwickelt werden (z.B. Einbeziehung von Massen, Beschleunigungszeiten).
Es ist absehbar, daß für die Zukunft Applikationen unterschiedlicher Netztypen realisierbar werden. Dies gilt um so mehr, da ANNs im hohen Grade parallele Verarbeitung erlauben. Weit verbreitet sind daher zur Zeit Transputernetzwerke in der ANN-Simulation. Einen relevanten praktischen Vorteil dieser Lösungen bildet die Verfügbarkeit von Datenerfassungskarten, die großen Datendurchsatz (Real-Time-Videoprozessing) in das Transputernetz haben. Da auf dem Markt auch bereits spezielle Neuro‑Prozessoren vorhanden sind, können in Zukunft nicht nur Geschwindigkeitsvorteile sondern auch reduzierte Kosten und höhere Zuverlässigkeit erwartet werden.
Zur Zeit wird am FLW für einen neuen automatischen Kran ein neuartiges Steuerungskonzept erarbeitet, bei dem das Pendeln der Last mit einem selbstlernenden Neuronalen Netz kontrolliert werden soll. Dieses Projekt soll in Zusammenarbeit mit Dr. Sitte von der Queensland University of Technology/ Faculty of Information Technology in Brisbane/Australien realisiert werden, der am inversen Problem (Balancieren eine Besenstiels) mittels neuronaler Steuerung eines Roboterarms bereits aktiv forscht. In diesem Projekt sehen wir überdies wissenschaftlich interessante Zusammenhänge mit aktuellen Fuzzy-Logic-Steuerungskonzepten.
Die Vielzahl nichtklassischer Konzepte ist aus dem reinen (Grundlagen-)Forschungsbereich heraus in die ersten Anwendungen getreten. Stellen heutige Applikationen auch nur in eng definierten Umgebungen ihre Leistungen unter Beweis, so ist doch abzusehen, daß diese Methoden immer breiteren Eingang finden werden. Schon heute sind die Synergie-Effekte bei hybriden Systemen offensichtlich.
Quellen
IAO-Forum Expertensysteme in Produktion und Engineering
Springer, Berlin, T 23, April, 1991
Schäfer, G. Beitrag zur Optimierung von Kommissionierfahrten in Hochregallager-gassen mittels neuronaler Netze, Universität Dortmund, MB - FLW, 1991
Geiger, H. Neuronale Netze
Elektronik, 21/23/25, 1990; 2, 1991
Domschke, W. Logistik: Rundreisen und Touren
Oldenbourg, München, 3. Auflage, 1990
Lawrence, J. Untangling, Neuronal Nets
Dr. Dobb´s Journal, April, 1990
Jünemann, R. Materialfluß und Logistik
Springer, Berlin, 1989
Dörner, H. Die Logik des Misslingens
Rowohlt, Hamburg, 1989
Kaindl, H. Problemlösen durch heuristische Suche in der Artificial Intelligence
Springer Wien, 1989
Palm, G. Assoziatives Gedächtnis und Gehirntheorie
Spektrum der Wissenschaft, Juni, 1988
Kommentare
Kommentar veröffentlichen