Wohl jeder Logistiker wird früher oder später mit der Frage konfrontiert: Soll man eher zentral oder eher dezentral lagern? Beides hat spezifische Vor- und Nachteile. Im Wesentlichen sind die Vorteile eines Zentrallagers die Nachteile vieler dezentraler Lager [1]. Auch wenn es plausibel, so bleiben es oft Allgemeinplätze ohne Beleg. Immerhin sind sich die Autoren weitgehend einig [2].
Es gibt Modellrechnungen unter vielen Randbedingungen. Der Zusammenhang wird mit "Quadratwurzelgesetz der Logistik" bezeichnet, eine Konsequenz aus der Andler-Formel mit geeigneten (unrealistischen) Annahmen. Nun beruht auch die optimale Losgrößenformel von Andler auf vielen (unrealistischen) Annahmen [3].
Lehrbuchwissen
Zur Veranschaulichung werden häufig Bilder genommen. Ein paar Varianten:
Eine Klausuraufgabe kann sein: "Zeichen Sie die den typischen Zusammenhang zwischen Gesamtkosten und Anzahl der Lager einem Distributionssystem. Nehmen Sie Stellung wie die Verläufe der Kurven in der Realität sind." Ich habe sehr viele Antworten von Studierenden aus mehr als 10 Jahren zu einer typischen Antwort destilliert:
Offensichtlich nehmen Studierende die Grafiken sehr ernst. Das finde ich verständlich, denn es wird mit der Autorität des Lehrenden präsentiert. Aber was ist davon zu halten? Ich denke das ist katastrophal für die Studierenden.Der Verlauf kann durchaus realistisch sein. In der Grafik zeigt sich, dass Lagerkosten mit zunehmender Zahl der Lagerstandorte steigen. Die Transportkosten hingegen sinken bei gleicher zunehmender Standortzahl, die Kurven verlaufen gegenläufig. Man sieht deutlich, dass die niedrigsten Gesamtkosten in der Nähe des Schnittpunktes der Lager- und Transportkosten zu finden sind. Die Abbildung berücksichtigt nur die wichtigsten Kostenarten, während in der Praxis auch andere Kosten (z.B. Umschlagkosten, Servicekosten etc.) miteingerechnet werden müssen.
Ist doch einfach, oder?
Im Allgemeinen ist das Minimum einer Funktion (Gesamtkosten) als Summe zweier Teilfunktionen (Lager- und Transportkosten), nicht dort wo sich die beiden Teilfunktionen scheiden. Dazu sind spezielle Eigenschaften der beiden Teilfunktionen notwendig.Auch wird man die Zusammenhänge nicht über stetig differenzierbare, streng monotone Funktionen darstellen können, 3,785 Lager gibt es einfach nicht. Auch wenn man unterstellt, dass der qualitative Zusammenhang korrekt dargestellt ist, so kann man definitiv keine konkrete Lagerzahl ablesen.
Es gehört zu den entscheidenden Erkenntnissen, dass diese Darstellung nichts mit der Realität zu tun hat, sondern aus Gründen der Darstellung qualitative Kurven zeigt. Zudem ist zu erwarten, es gibt verschiedene lokale Minima, dass es sprungfixe Kostenanteile gibt und dass die Kosten des Transports gegen Null fallen, was bedeuten würde, dass die Lager beim Kunden sind. Das wäre natürlich die maximal dezentral. Zudem sind sich die Autoren noch nicht einmal über die Kurvenform einig.
Solche Bilder sind einfach nur qualitative Infografiken, sehen nett aus, gut für Folien, aber ohne konkrete Bedeutung. Die darf man nicht Ernst nehmen!
Verständlichkeit
Die Abwägung zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung ist nun mal wichtig. Die Autoren reduzieren das aber grafisch stark verkürzt. Die entscheidenden Voraussetzungen werden weggelassen - vielleicht haben rs einige Autoren auch nicht wirklich verstanden. Die Lernenden bekommen ein falsched Bild vermittelt.
Wo ist die sinnvolle Grenze der Reduktion, bei der wesentliche inhaltliche Bestandteile nicht verloren gehen, aber beste Verständlichkeit erreicht wird? Welche Kompetenz erlang man mit retardierten Lehrinhalten?
↪ Vor- und Nachteile: zentrales und dezentrales Lager, Redaktion Logistik Knowhow, Stutensee, 09.02.2019
Wolf-Rüdiger Bretzke, Logistische Netzwerke, Springer, 9.05.2008, & books.google.de Abb. 2.40 S. 251
Timm Gudehus Logistik I: Grundlagen, Verfahren und Strategien, VDI-Buch, Springer, 2000, & books.google.de S.308
Quellen
[1]
Vor- und Nachteile zentraler bzw. dezentraler Distributionsstrukturen mit Hilfe des Google-Orakels im Juni 2020
Fernkurs Beschaffung und Logistik Probelektion: ⧉ Lernheft 6
Lagerwirtschaft, Laudius, Straelen, 2020, S. 9
Dieter Kluck, Materialwirtschaft und Logistik, Schäffer-Poeschel; 3. Aufl. 07.03.2008, & books.google.de S. 189
Wilhelm Dangelmaier, Konzepte und Methoden des Supply Chain Management, Kapitel 3
Supply Chain Design
Modul Produktionslogistik (W 2332-02) SS 2017, ⧉ Vorlesungsunterlagen Folie 40
Norman Moder, Standard-Vorgehensweise zur Analyse und Optimierung der Distributionslogistik im Bereich Business to Consumer, Dissertation, Fakultät für Maschinenbau der Technischen Universität Ilmenau, 2010, ⧉ download
[2]
Natürlich hat Tim Gudehus dazu mehr als qualitative Aussagen:
auch bekannt als ↪ Quadratwurzelgesetz der Logistik, Redaktion Logistik Knowhow, Stutensee, 01.02.2016 von Ernst Kurzmann, Das Wurzelgesetz der Logistik, Graz, 2014, ⧉ Download
Knut Alicke, Planung und Betrieb von Logistiknetzwerken: Unternehmensübergreifendes Supply Chain Management, VDI-Buch, Springer, 2. Auflage, 30.05.2005, & books.google.de Kap 10.6, S.165
[3]
Seite „Klassische Losformel“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 23. Januar 2020, 18:01 UTC. ↪ URL (Abgerufen: 20. Juni 2020, 07:52 UTC)
Bernd Noche (Ltg.), ⧉ Übung: Statische Losgröße - Andler Modell, in Vorlesung "Logistik und Materialfluss (Lagerlogistik)", Lehrstuhl Transportsysteme und Logistik, Uni Duisburg Essen, SoSe 2013
[4]
a) Julia Dücker, Distributionslogistik: Im Spannungsfeld zwischen minimalen Kosten und maximaler Leistung, Buchalik Brömmekamp Rechtsanwaltsgesellschaft, Düsseldorf, 2013 ⧉ Download
b) Thommen JP., Achleitner AK., Gilbert D.U., Hachmeister D., Kaiser G., Distributionspolitik. In: Allgemeine Betriebswirtschaftslehre. ↪ Springer Gabler, Wiesbaden, 2017 ↪ Bild
c) Jens Himmeldirk, Distributionsstrukturen für schwankende Sendungsmengen. Gestaltung, Optimierung, Anpassungsmöglichkeiten und Maßnahmen, Hausarbeit 1,1 Euro FH Hamburg, ↪ Grin Verlag, München, 2014 ↪ Bild
d) Bretzke WR, Industrielle Distributionssysteme. In: Logistische Netzwerke. ↪ Springer, Berlin, Heidelberg, 2010 ↪ Bild
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